Eine neue Hypothese über Francesco De Marchi (1504-1576) und seine Tauchgänge im Nemisee im Jahr 1535 Von Michael Jung Nur von wenigen Ereignissen in der Tauchgeschichte der frühen Neuzeit ist das genaue Datum bekannt. Die Tatsache, dass Francesco De Marchi (1504-1576) (Bild 01) in seinen Aufzeichnungen (1) den Tag seiner beiden Tauchgänge im Nemisee unweit von Rom festhielt, lässt vermuten, dass er sich ihrer Bedeutung durchaus bewusst war. Eine zentrale Frage blieb jedoch über die Jahrhunderte hinweg bis heute unbeantwortet: Wie wurde der Taucher mit Frischluft versorgt? Anhand der Analyse der Originalquelle soll hier vor allem dieser technische Aspekt hinterfragt und bewertet werden. Wie sich zeigen wird, sind die bisher verwendeten Quellen nicht sehr zuverlässig und der aktuelle Forschungsstand eher unzureichend. Im Gegensatz zu den bisherigen Darstellungen in der Literatur, die sich mit dieser Frage der Frischluftzufuhr befassen, wird hier eine neue Perspektive - die Möglichkeit der Versorgung des Tauchers über ein Blasebalg-Schlauch-System - als Hypothese über das damalige methodisch-technische Instrumentarium von De Marchi vorgestellt und in verschiedenen Argumentationsschritten begründet. Zunächst werden jedoch der Autor und seine Publikation, die im weiteren Verlauf der Studie eine besondere Rolle spielen wird, näher beleuchtet. Biographische Stationen und Geschichte der Publikation Der Militärarchitekt, Abenteurer und Höfling Francesco De Marchi ist eine der faszinierendsten Figuren im Umkreis der Farnese-Dynastie, nicht nur wegen seiner Leistungen auf dem Gebiet des Festungsbaus, sondern auch wegen der Rolle, die ihm in der Geschichte des Tauchens zugeschrieben wird. Er gehörte zu einer der bedeutendsten italienischen Adelsfamilien der Renaissance (2). De Marchi wurde Anfang 1504 in Bologna geboren und trat 1531 in die Dienste des Herzogs von Florenz, Alessandro de'Medici (1510-1537). Der heiratete 1536 Margarethe von Parma (1522-1586), eine uneheliche Tochter von Karl V. (1500-1558). Von da an blieb De Marchi mehr als vier Jahrzehnte lang mit Margarethe als Teil ihres Gefolges verbunden (3). Wenige Monate nach der Hochzeit wurde De' Medici ermordet, und Margarethe heiratete 1538 Ottavio Farnese (1524-1586), Herzog von Parma und Piacenza. Dadurch erhält De Marchi Zugang zu einem großen und einflussreichen Adelskreis. Im Jahr 1535 begann De Marchi als Autodidakt mit dem Studium der Zivil- und Militärarchitektur. Als Bewunderer der römischen Architektur war er Mitglied der Päpstlichen Accademia dei Virtuosi al Pantheon und einer Gruppe von Architekten und Künstlern, mit denen Papst Paul III. (geb. Alessandro Farnese, 1468-1549) sich umgab. Dort war er zwischen 1542 und 1548 an der Erweiterung und Befestigung der Stadtmauern Roms beteiligt. Im Jahr 1550 wurde er mit dem Titel "Capitano di guerra" (Festungskommandant) ausgezeichnet (4). In den folgenden Jahren reiste De Marchi unter anderem nach England, wo er 1554 der Hochzeit von Philipp (1527-1598), Margarethes Halbbruder und späterem König Philipp II. von Spanien, mit Maria I. (1516-1558) beiwohnte, und begab sich anschließend nach Flandern, wo Margarete 1559 zur Statthalterin ernannt worden war. Nach seiner Rückkehr nach Italien im Jahr 1568 lebte De Marchi weiterhin in Margaretes Gefolge in den Abruzzen. Er starb am 15. Februar 1576 in L'Aquila. De Marchi entwickelte fortschrittliche Verteidigungsanlagen in Parma und Antwerpen. Er betätigte sich nicht nur als Architekt, sondern auch als Erfinder mechanischer Kriegsgeräte und als Chronist von höfischen Ereignissen und Festivitäten (5). Besondere Berühmtheit erlangte er durch die Erstbesteigung des Gran-Sasso-Massivs 1573 im Alter von fast 70 Jahren. Von 1542 bis zu seinem Tod im Jahr 1576 arbeitete De Marchi an einer umfangreichen Publikation über Architektur und Festungsbau. Er bot das Manuskript erfolglos zum Druck in England, Flandern und Italien an. In seinen letzten Lebensjahren beschloss De Marchi, 29 Festungsentwürfe aus dem Manuskript als Kupferstiche ohne Begleittext reproduzieren zu lassen, um sie einzeln verkaufen zu können. 1597 stieß der Drucker Gaspare dall' Oglio auf das Textmanuskript, das De Marchi 1554 Philipp II. in London erfolglos angeboten hatte (6). Er veröffentlichte es zusammen mit den 29 Kupferstichen als erste Text- und Bildausgabe 1599 in Brescia unter dem Titel Della architettura militare in italienischer Sprache (Bild 02), mit De Marchi als Autor. Dieses posthume Werk De Marchis wurde 1810 von dem Verleger und Direktor der Staatsbibliothek Casanatense in Rom, Luigi Marini (1768-1828), ins zeitgenössische Italienisch übersetzt und mit vielen Kommentaren von ihm als fünfbändige, großformatige Luxusausgabe neu aufgelegt (7). Marini widmete es seinem Dienstherrn Napoleon Bonaparte (1769-1821), der von 1805 bis 1814 auch das Königreich Italien regierte. De Marchis Originalwerk wurde in keiner anderen Sprache als Italienisch veröffentlicht (8). Zwei Jahre zuvor, 1597, war in Venedig das fünfteilige Werk über militärische Befestigungen Delle Fortificationi von Buonaiuto Lorini (1545-1611) erschienen, das zahlreiche fortschrittliche Baupläne enthält. Es enthält auch eine Beschreibung und eine Abbildung einer Taucherglocke (9). Das Werk wurde mehrmals nachgedruckt und 1607 ins Deutsche und 1609 ins Französische übersetzt. Es ist möglich, dass De Marchis Werk im Schatten dieses bedeutenden Werks von Lorini unbemerkt blieb. Die Tauchgänge von Francesco De Marchi De Marchi war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vor allem als Festungsbauspezialist bekannt (10) - ungeachtet der bahnbrechenden Bedeutung, die ihm in der Geschichte des Tauchens zugeschrieben werden kann. In seinem Werk Della architettura militare, das zahlreiche biographische Angaben enthält, beschreibt De Marchi zwei Tauchgänge, die er am 15. Juli 1535 im Nemisee (Bild 03), etwa 30 Kilometer südöstlich von Rom, unternahm - der erste dauerte eine halbe Stunde, der zweite eine ganze Stunde (11). Als Grund für die Tauchgänge gibt er sein Interesse an archäologischen Forschungen an (12). Die von ihm geborgenen Artefakte wurden später untersucht und ausgestellt. In der Antike galt der See als Erholungsgebiet für reiche Römer. Kaiser Caligula (12-41) ließ dort zu seinem Vergnügen und für kultische Zwecke zwei große schwimmende Holzinseln in Form von Schiffen errichten, die dann im Laufe der Jahrhunderte untergingen. Das erste Wrack wurde später in Küstennähe in einer Tiefe von 5 bis 12 Metern gefunden, während das zweite etwas weiter vom Ufer entfernt in einer Tiefe von 15 bis 22 Metern lag (13). Die Tauchgänge von De Marchi markieren den Übergang von der Verwendung stationärer Taucherglocken zu mobilen Tauchhelmen. Letztere können als tragbare, kleine Taucherglocken beschrieben werden, die nur den Kopf und einen Teil des Oberkörpers des Tauchers umschließen und den Vorteil der Mobilität auf dem Grund bieten. Diese Mobilität ist auch das Unterscheidungskriterium zwischen einem offenen Taucherhelm und einer Einmann-Taucherglocke. De Marchi benutzte bei seinen Tauchgängen einen Helm, den er "instromento"(14) nannte und der es ihm ermöglichte, eine Stunde oder länger unter Wasser zu bleiben. Er hatte ihn nicht selbst gebaut, sondern ihn von einem "Maestro Gulielmo da Lorena"(15) erhalten. Um so lange unter Wasser bleiben zu können, muss es eine besondere Methode gegeben haben, mit der die Luft im Helm immer erneuert werden konnte, sonst wäre der Taucher an Sauerstoffmangel gestorben. Die von De Marchi verwendete Methode der Frischluftzufuhr ist bis heute unbekannt, weil er dem Konstrukteur des Helms versprochen hatte, sie wegen ihres innovativen Charakters bis zu seinem Tod geheim zu halten: "Per lo giuramento, che io ho mi saluaro di non accusare modo che usciua il fiato, e non poteua intrare l'acqua" (16) ("Denn der Eid, den ich geschworen habe, ermöglichte, dass mir nicht der Atem ausging und ich ins Wasser konnte.")*. Über „Maestro Gulielmo da Lorena“ war bislang wenig bekannt. De Marchi bezeichnet ihn mehrmals nur als "Maestro" und beschreibt ihn als einen Mann von großem Einfallsreichtum (17). Vor der Operation am Nemisee hatte Da Lorena mit Hilfe seines Taucherhelms Kanonen aus einer gesunkenen Galeere bei Civitavecchia im Tyrrhenischen Meer geborgen. Neueste Forschungen konnten nunmehr den Konstrukteur identifizieren. Etienne Guillery aka „Maestro Gulielmo da Lorena“ Es handelt sich mit großer Wahrscheinlichkeit bei „Maestro Gulielmo da Lorena“ um Etienne Guillery, einen aus der französischen Stadt Lunéville in der Diözese Toul (Herzogtum Lothringen, it. „Lorena“) stammenden bedeutenden Buchdrucker (damals „Typograph“ genannt), Buchhändler und Verleger, der ab 1506 auch an der Universität in Rom tätig war (18). Er lebte im Stadtteil Parione, dem Zentrum von Rom. Etienne ist eine französische Variante des Vornamens Stefan. In seinen Werken druckte Guillery sein Emblem mit seinem, in Italienisch übersetzten Namen „Mastro Stephano Guilleri de Lorena“ in verschiedenen Varianten (Stephanus Guillereti de Lothringa, Maestro Guilleri de lo Reno, Magistrum Stephanum Guillireti de Lunarivilla, Stephanum Guillireti de Lunarivilla Tulleñ, Diöz., Magistrum Stephanum Guillereti de Lotoringia, magistrum Stephanum Guillireti Lothoringu) (Bilder 04 und 05). Die Anrede „Maestro“ steht für eine in seiner Handwerkskunst gebildete Person. Francesco Barberi listet 143 verschiedene Druckerzeugnisse von Guillery zwischen 1506 und 1524 auf (19). Guillery publizierte vielfältige und bedeutende Schriften, Reiseberichte, Bullen, Predigten sowie wissenschaftliche Werke, unter anderem 1514 ein medizinisches Werk von Giovanni da Vigo, dem Arzt von Papst Julius II., sowie 1515 italienische Übersetzungen von spanischen Mathematikern wie Juan de Ortega. Vigos Buch über die Chirurgie war ein großer Erfolg. Es wurde ins Englische, Lateinische, Italienische und Französische übersetzt und im 16. und 17. Jahrhundert vielfach nachgedruckt. 1514 druckte Guillery das Buch Natura, Intellecto & Costumi de lo Elephante, cauato da Aristotele, Plinio e Solino von Philomathes. Papst Leo X. hatte 1510 den Elefanten „Hanno“ von König Emanuel I. von Portugal als Geschenk erhalten. Das fremde Tier erregte große Aufmerksamkeit in Rom. Im Buch wird anhand alter Quellen, unter anderem den Werken von Aristoteles, das Wesen von Elefanten beschrieben. Aristoteles beschrieb in seinem Buch De partibus animalum (Buch II, Kap. 16) die lange Nase von Elefanten und verglich sie mit einem Schnorchel für Taucher. Guillery war der offizielle Drucker von Papst Leo X. und hatte hohes Ansehen am päpstlichen Hof. 1521 war ihm der Titel eines Buchhändlers der Akademie von Rom verliehen worden. Die Academia Romana ist die älteste und berühmteste römische Akademie der Renaissance, die um 1464 gegründet wurde. Sie beschäftigte sich mit antiken Schriften und der Erkundung der archäologischen Stätten und Funde. Guillery war eine wichtige Figur in der französischen Kolonie in Rom. Persönlich befreundet war er mit dem französische Gesandtschaftssekretär Nicolas Raince, der 1530 unter Papst Clemens VII. eine wichtige Rolle bei den Verhandlungen zwischen Frankreich und dem Heiligen Stuhl spielte. Die letzten von dem Franzosen Guillery herstellten Druckwerke stammen aus 1524, sein späterer Wohnort ist nicht bekannt. Er heiratete eine Italienerin, Angelina, und hatte 1562 einen Sohn, Marcantonio, der Buchhändler in Rom am Torre dei Mellini war. Anhand einiger Hypothesen lassen sich Verbindungen zwischen Guillery, De Marchi und dem Nemisee herstellen. • Zwischen 1510 und 1515 arbeitete Guillery mit dem Drucker Ercole Nani aus Bologna zusammen, dem Geburtsort von De Marchi. • Guillery könnte 1527 während der Plünderung von Rom geflüchtet sein. Ein mögliches Ziel könnte Florenz gewesen sein, wo Francesco De Marchi ab 1531 im Dienst des Herzogs von Florenz, Alessandro de Medici stand. • So wie De Marchi, war auch Guillery im Umfeld der Kurie in Rom tätig, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich beide dort kennengelernt haben. Beide interessierten sich für römische Geschichte. • Anhand der Drucke von Guillery lässt sich ein historisches Interesse ableiten, und da er in Wissenschaftskreisen unterwegs war, könnte er auch in Kontakt gekommen sein mit Methoden, um unter Wasser zu tauchen. Die Schriften von Mariano di Jacopo (genannt Taccola) und Francesco di Giorgio Martini, die Tauchgeräte mit langen Schnorcheln abbilden, könnten ihm bekannt gewesen sein, und der Tauchgang an der versunkene Galeere bei Civitavecchia ebenso archäologischem Interesse entspringen, wie die im Nemisee. Möglicherweise war Guillery selbst für die Tauchgänge im Nemisee zu alt und hat mit De Marchi jemand gefunden, der sie stellvertretend für ihn durchführte. • Guillery hatte 1520 das Buch De principe des Architekten Leon Baptist Alberti (1404-1472) nachgedruckt. Alberti hatte 1446 im Auftrag von dem an Archäologie interessierten Kardinal Prospero Colonna mit einem Floß und Apnoetaucher im Nemisee nach den Wrack gesucht, aber wenig Erfolg gehabt. Vielleicht hoffte Guillery, 1535 mit seiner Tauchausrüstung mehr Erfolg als Alberti zu haben. Es ist nach all diesen Hinweisen nicht unwahrscheinlich, dass der Konstrukteur des offenen Taucherhelms, der 1535 im Nemisee verwendet wurde, der Franzose Etienne Guillery war. Der offene Taucherhelm Der Taucherhelm (Bild 06), allerdings ohne das Luftversorgungssystem, wird von De Marchi ausführlich beschrieben (20). Auf der Grundlage dieser Beschreibung veröffentlichte Vittorio Malfatti 1905 in seinem Buch über den Nemisee erstmals eine bildliche Rekonstruktion. (21), eine moderner Rekonstruktionsversuch in Bild 08. Es handelt sich um einen runden Zylinder aus Eichenbohlen, der wie ein Fass mit Eisenreifen zusammengehalten wird und bis zum oberen Teil des Körpers reicht. Die Ritzen sind mit Talg versiegelt, und außen hat er den gleichen Anstrich wie ein Schiffsrumpf. Das Verhältnis von Höhe zu Durchmesser beträgt 5:3, und am Boden ist ein Bleirand als Gewicht angebracht, um die Sinkfähigkeit des Helms zu erhöhen. Auf Augenhöhe befindet sich ein rechteckiges Sichtfenster aus Glas. Innen sind Riemen angebracht, mit denen der Helm auf den Schultern getragen wird. Sie konnten unter Wasser abgeworfen werden, so dass der Taucher aus dem Helm tauchen und ohne ihn aufsteigen konnte. Der Helm war mit einem Seil an einem Kran auf einem Boot befestigt. De Marchi gibt seine größte Tauchtiefe im Nemisee mit sechs "canne romane"(22) an. Eine "canne romane" ist 2,234 Meter lang. Demnach war er bis zu einer maximalen Tiefe von 13,5 Metern getaucht. Diese Information passt zur Lage des Wracks in Küstennähe und unterstützt, wie viele andere Details, die Glaubwürdigkeit seines Berichts. De Marchi beschreibt in seinem Werk nicht - entsprechend Guillerys Wunsch nach Geheimhaltung - wie die Luft im Helm während des Tauchens erneuert werden kann. Diese Lufterneuerung war nicht nur für die Atmung des Tauchers wichtig, sondern auch, um das Luftvolumen des Helms in größeren Tiefen wieder aufzufüllen. In einer Tiefe von 10 Metern ist das ursprüngliche Luftvolumen im Helm aufgrund des Druckanstiegs nur noch halb so groß, weshalb der Wasserspiegel über dem Gesicht liegen würde, sofern das Luftvolumen nicht aufgefüllt wird. Ohne Luftnachschub wäre das Atmen unmöglich, und der Taucher würde ertrinken. Im Folgenden wird die Originalquelle Della architettura militare aus dem Jahr 1599 analysiert, um zu zeigen, dass diese methodische Frage der Luftauffüllung bisher nicht ausreichend erforscht ist und möglicherweise falsch interpretiert wurde. Eine neue Hypothese zur Frage der Lufterneuerung Für das Auffüllen des Helms mit frischer Luft gibt es theoretisch zwei Möglichkeiten, wenn man die damalige Technik berücksichtigt: Entweder mit Hilfe eines Blasebalgs und eines Schlauchs, die sich an der Oberfläche befinden, zum Helm, oder durch die Verwendung einzelner kleinerer Luftbehälter, die in bestimmten Zeitabständen von der Oberfläche herabgelassen werden, wobei das Luftvolumen vom Taucher in den Helm übertragen wird. Das letztgenannte System wurde durch den englischen Astronomen Edmond Halley (1656-1742) bekannt gemacht. Im weiteren Verlauf des Textes wird diese Methode als "Halley-System" bezeichnet. Halley verwendete es erstmals 1691 mit einer stationären Taucherglocke (23). Neuere Berichte (24) legen auch nahe, dass die von De Marchi verwendete Lufterneuerung des Helms nur mit Hilfe des Halleyschen Systems funktioniert haben kann, so dass Da Lorena als der frühe Erfinder des Systems - mehr als 150 Jahre vor Halley - angesehen werden kann und somit einem Italiener die Ehre des Erfinders gebühren würde. Diese Hypothese findet sich zum ersten Mal 1810 (25) in einem Kommentar von Marini in seiner Luxusausgabe von De Marchis Della architettura militare: "Il principio di respirazione dell' istru-mento di M. Gulielmo deve essere sicuramente simile a quello di Halley" (26) ("Das Atmungsprinzip von M. Gulielmos Gerät ist sicherlich ähnlich wie das von Halley.").* Bei dieser von Marini 1810 veröffentlichten Interpretation könnten auch politische Gründe eine Rolle gespielt haben. Jahrhundert führten nationalistische Strömungen in Europa dazu, dass Historiker verschiedener Nationen miteinander wetteiferten, um die Überlegenheit ihrer jeweiligen Nationalhelden zu beweisen (27). Eine historisch bedeutsame politische Auswirkung nationalistischer Ideen im späten achtzehnten Jahrhundert war zum Beispiel die Französische Revolution. Marinis Darstellung kann in diesen Kontext eingeordnet werden, da sie, wie im Folgenden gezeigt wird, auf einer falschen Darstellung der Aussagen von De Marchi beruht. Die Befürworter des "Halleyschen Systems" leiten eines ihrer zentralen Argumente von einer Textpassage aus der von Marini 1810 herausgegebenen Ausgabe von De Marchis Werk ab. Darin schreibt De Marchi angeblich, dass der Taucherhelm keinen Kanal für die Kommunikation mit der Luft außerhalb des Wassers habe, was eine Balglösung praktisch ausschließe: "...e non entra l? acqua, e non ha alcun condotto di comuni cazione coll? aria al di fuori dell? acqua"(28) ("...und kein Wasser eintritt, und es hat keine Luftzuleitung von außerhalb").* Die Texte von De Marchi in der Ausgabe von 1810 wurden jedoch von Marini überarbeitet und umformuliert und sind daher als historische Quelle nur von sehr begrenztem Wert. Im Originalbuch von 1599 wird der Sachverhalt wie folgt beschrieben: "...e non entra l' acqua, senza spiracolo sopra l'acqua ..."(29) ("...und kein Wasser eintritt ohne ein Luftloch über Wasser").* De Marchi schreibt hier im Originaltext, dass es kein "spiracolo" (lat. "spiraculum"), d.h. kein "Atemloch" über dem Wasser gibt, wie es z.B. Delphine und andere Meeressäuger besitzen. De Marchi schließt also keineswegs aus, wie Marini in seiner "Übersetzung" von 1810, dass es eine Verbindung wie ein Luftschlauch vom Helm zur Oberfläche geben könnte. Ihm fehlt lediglich ein Atemloch, wie es in zeitgenössischen Darstellungen zu sehen ist, zum Beispiel im Werk des italienischen Militärtechnikers Francesco di Giorgio Martini (1439-1502) von 1480 (Bild 07) (30). Wäre z.B. ein Blasebalg an einem Rohr an der Oberfläche befestigt, würde auch das Atemloch fehlen. Das Halleysche System ist also keineswegs die einzig denkbare Lösung, wie von Marini vorgeschlagen. Die folgenden fünf Argumente könnten nicht nur für eine Verwendung der Balgtechnik, sondern auch gegen das Halleysche System von De Marchi sprechen: 1. Das Grundproblem bei der Anwendung der Balgtechnik war damals nicht so sehr der Balg, sondern die undichten Schläuche (31). Aufgrund des Druckunterschieds zwischen der Druckluft im Schlauch und dem Umgebungsdruck des Wassers perlt die Luft aus den Schlauchnähten ins Wasser und zwar umso mehr, je höher der Druckunterschied zwischen der Druckluft und dem Umgebungsdruck ist. Er ist knapp unter der Wasseroberfläche am größten und nimmt mit zunehmender Tiefe ab. Daher entstehen die größten Verluste auch durch die Luft, die aus den Schlauchnähten knapp unter der Oberfläche herausperlt. Wenn die ersten Meter bis zur Tiefe mit einem dichteren Rohrstück statt mit einem Schlauch überbrückt werden, wird ein Großteil dieser Leckagen vermieden. Anschließend können flexible Schläuche verwendet werden, um bis zum Helm zu gelangen. Diese Kombination aus Rohr und flexiblem Schlauch war zu der Zeit von De Marchi in Italien bereits bekannt. Im Jahr 1420 stellte der Arzt Johannes de Fontana (ca. 1395-ca. 1455) an der Universität von Padua solche Lederschläuche her.(30) Sie bestanden aus langen Lederstreifen, die durch Rohrstücke verbunden waren, und waren als bewegliche Wasserleitungen gedacht. 2. De Marchi beschrieb das Essen von Käse und Brot unter Wasser, das er vermutlich in einem Brustbeutel aufbewahrte (33) Dass der Beutel während des Abstiegs nicht nass wurde, kann nur darauf zurückzuführen sein, dass bereits während des Abstiegs Luft hineingepumpt wurde, um den Wasserstand niedrig zu halten. Der Wasserstand im Inneren des Helms muss durch eine Methode niedrig gehalten worden sein, die in der Praxis nur ein ständiges Aufpumpen sein konnte, denn De Marchi berichtet auch, dass seine Jacke nach dem Tauchgang genauso trocken war wie vorher (34). Wegen der senkrechten Helmwand, an der der Wasserspiegel schneller ansteigt als in einem geneigten Taucherhelm, musste er mit dem ständigen Aufpumpen der Luft beginnen, sobald er in die Tiefe abtauchte. Dieses ständige Nachfüllen, um den steigenden Druck während des Abstiegs auszugleichen, wäre mit dem Halley-System kaum möglich gewesen. 3. Das etwa 70 Meter lange und 20 Meter breite Wrack wurde von De Marchi begangen und am Grund vermessen (35). Das Halley-System ist hier für einen mobilen Taucher aus praktischen Erwägungen weitgehend auszuschließen. Einmal auf dem Grund des Sees und mit der zusätzlichen Möglichkeit schlechter Sicht durch aufgewirbeltes Sediment, wäre es eine mühsame Aufgabe, einem gehenden Taucher mit dem Boot zu folgen, das immer senkrecht über ihm steht, um die Frischluftflaschen in der Nähe seines Helms abzusenken. In einem trüben Binnensee mit seinen Wellen und Strömungen ist dies nur schwer möglich, ohne dass es zu einigen Fehlversuchen kommt. Schon ein paar Fehlversuche können für den Taucher lebensgefährlich sein. 4. Laut De Marchi war der Helm "era longo cique palmi Romani; e tre largo"(36), also 1,17 Meter hoch und 0,67 Meter im Durchmesser. Das ergibt ein Volumen von 412 Litern. Zieht man den Torso ab, verbleibt ein Volumen von etwa 380 Litern. Bei einer Tiefe von 10 Metern und einem entsprechenden Volumen von nur 190 Litern ist es also möglich, bei einer Atemfrequenz von 40 l/min weniger als fünf Minuten in diesem Minutenvolumen zu arbeiten. Dabei ist die Zeit des Abstiegs nicht berücksichtigt, die noch abgezogen werden muss. Folglich hätte der Taucher bei der Versorgung mit dem Halley-System immer schon nach wenigen Minuten einen Frischlufttank einströmen lassen müssen. Er wäre so sehr mit dem Nachfüllen der Frischluft beschäftigt, dass er kaum Zeit hätte, am Grund zu arbeiten. 5. Ein weiteres Argument für die Balgmethode und gegen das Halleysche System wird indirekt von De Marchi selbst angeführt. In seinem Text berichtet er, dass er gerne in die Räume des Wracks eingestiegen wäre, dies aber nur deshalb nicht tat, weil er Angst hatte, sich zu verirren oder abzustürzen, was dazu führen würde, dass die Luft sofort aus dem Helm entweichen und der Taucher ertrinken würde (37). Er schreibt jedoch nicht, dass die Luftzufuhr ein Problem darstellt, wenn man in das Innere eines Wracks eindringt. De Marchi hat dies einmal kurz versucht und ist mit Hilfe eines Seils wieder herausgekommen. Mit einem Halley-System wäre ihm das nicht möglich gewesen, denn dann hätten ihn die Lufttanks nicht erreichen können. Das Eindringen in Wracks war nur möglich, wenn man eine Schlauchverbindung zur Oberfläche hatte. Der handschriftliche Text von 1554, den Gaspare dall' Oglio für die posthume Ausgabe von 1599 verwendete, war weder die einzige noch die letzte Fassung von De Marchis Werk. In den folgenden zwei Jahrzehnten entwickelte De Marchi das Manuskript weiter und schickte Kopien an mögliche Geldgeber als "work in progress", bis er 1576 starb (38). Nach erfolglosen Versuchen, Geldgeber für den Druck in London, Antwerpen und Piacenza zu finden, arbeitete er in den Jahren in den Abruzzen weiter an dem Manuskript, wobei er den Text immer wieder aktualisierte und ergänzte und ihn von Kopisten abschreiben ließ. Teile dieser verschiedenen Manuskriptversionen sind erhalten geblieben und befinden sich heute verstreut in verschiedenen Provenienzen in Italien (Turin, Florenz, Bologna) und im Ausland (Paris, Madrid, El Escorial, New Haven) (39). Ihre Aufarbeitung beginnt erst langsam, und so besteht die Hoffnung, dass De Marchi in den Jahren zwischen 1554 und 1576 auch die beiden Kapitel über seine Tauchgänge im Nemisee überarbeitet und dabei das Geheimnis der Lufterneuerung selbst gelöst hat. Es bleibt also die Aufgabe der tauchhistorischen Forschung, festzustellen, ob in den erhaltenen Handschriftenversionen nach 1554 die Methode der Lufterneuerung von ihm ausführlich beschrieben und dokumentiert wurde. Zumindest solange diese neuen Quellen nicht ausgewertet sind, muss die Forschung offen und hypothesengeleitet bleiben. Schlussfolgerung In dieser Arbeit wurde der historische Originaltext von De Marchi in der Fassung von 1554 analysiert und gezeigt, dass die heute noch weit verbreitete Ansicht, Francesco de Marchi habe ein Halleysches System zur Frischluftzufuhr als einzig denkbare technische Lösung gehabt, nicht haltbar erscheint. Diese Ansicht beruht im Wesentlichen auf einer veränderten Textpassage, die 1810 vom Verleger Marini verbreitet wurde und noch heute als Quelle verwendet wird (38). Die hier vorgestellten neuen Argumente sprechen gegen die Verwendung des Halleyschen Systems und für die Verwendung eines Balg-Schlauch-Systems zur Frischluftzufuhr. Wie Experimente gezeigt haben, könnte diese Methode auch in größeren Tiefen "leicht" angewendet werden (41). Diese Arbeit erhebt keinen Anspruch auf eine abschließende Bewertung, zeigt aber, dass die Funktionsweise des Tauchhelms von Francesco De Marchi noch nicht systematisch erforscht wurde. * Der italienische Originaltexte wurden hier wegen der besseren Lesbarkeit sinngemäß in deutsche Sprache übersetzt. Anmerkungen 1. De Marchi, Francesco: Della architettura militare del capitano Francesco de’ Marchi bolognese, gentil’huomo romano, libri tre. Brescia 1599. 2. Zu den jüngsten biographischen Abhandlungen über De Marchi gehören: Bertini, Giuseppe: Francesco De Marchi, una biografia aggiornata, in: Ciro Robotti (Hg.), Dai Farnese ai Borbone, famiglie europee, Manduria 2006, 221-230; Lamberini, Daniela: De Marchi Francesco, in: Giancarlo Mauri (Hg.), Francesco de Marchi e le navi di Nemi - Della Architettura Militare (1599), 2016, 7-24. 3. Lamberini, De Marchi, S. 14. 4. Venturi, Giovanni Battista: Memoria intorno alla vita e alle opere del capitano F. Marchi. Milano 1816, S. 11. 5. Venturi, Memoria, S. 38-40. 6. Lamberini, De Marchi, S. 11. 7. De Marchi, Francesco/Marini, Luigi: Architettura militare di Francesco de' Marchi. Rom, 1810. 8. Laut einer Suche in World Cat.org am 17. Januar 2022. 9. Lorini, Buonaiuto: Delle fortificationi. Venice 1597, S. 204. 10. Cf. Pepper, Simon/Adams, Nicolas: Firearms & Fortifications: Military Architecture and Siege Warfare in Sixteenth-Century Siena. Chicago 1986, S. 175. 11. De Marchi, Della architettura militare, Libro II, fol. 42r-44r. 12. Ibid., fol. 43v. 13. Speziale, G. C.: The Roman Galleys in the Lake Nemi. In: Mariner’s Mirror, 4, 1929, 333-346, hier S. 338. 14. De Marchi, Della architettura militare, Libro II, fol. 42r. 15. Ibid. 16. Ibid., fol. 43v. 17. Ibid., fol. 44r. 18 Elie, Hubert: Lorrains et Lorraine. Nancy, 1969, S. 44. 19 Barberi, Francesco: Tipografi Romani del cinquecento. Firenze, 1983, S. 48-55. 20. De Marchi, Della architettura militare, Libro II, fol. 43v. 21. Malfatti, Vittorio: Le navi romane del lago di Nemi. Rom 1905, S. 25. Die Darstellung der Luftzufuhr fehlt. 22. Ibid., fol. 42r. 23. Halley, Edmond: The Art of Living under Water: Or, a Discourse concerning the Means of Furnishing Air at the Bottom of the Sea, in Any Ordinary Depths, in: Philosophical Transactions of the Royal Society of London, 29(349), 1716, 492-499. 24. Beispielsweise Eliav, Joseph: Guglielmo’s Secret: The Enigma of the First Diving Bell Used in Underwater Archaeology, in: The International Journal for the History of Engineering & Technology, 1, 2015, 60-69, hier S. 66. 25. 1816 auch in Venturi, Memoria, S. 5. Halley wird hier als "Alleyo" bezeichnet. 26. De Marchi/Marini, Architettura militare, S. 374. 27. Vgl. Ng, Morgan: New Light on Francesco De Marchi (1504-1576) and his Treatise on Fortification, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz, 58(3), 2016, 403-410, hier S. 403. 28. De Marchi/Marini, Architettura militare, S. 366. 29. De Marchi, Della architettura militare, Libro II, fol. 43r. 30. Di Giorgio Martini, Francesco: Trattati di architettura ingegneria e arte militare. Siena 1480, British Library, Add MS 34113. 31. Phillips, Nigel: The Path to the Standard Dress, in: Proceedings of the Twenthy-Ninth Annual Conference of the Historical Diving Society, 2019, 38-48, hier S. 45. 32. De Fontana, Johannes: Bellicorum instrumentorum liber cum figuris. Venice 1420, Bayerische Staatsbibliothek, Cod.icon. 242, ref. fol. 11r. 33. De Marchi, Della architettura militare, Libro II, fol. 42r. 34. Ibid., fol. 42v. 35. Ibid., fol. 43r. 36. Ibid. 37. Ibid., fol. 42v. 38. Lamberini, De Marchi, S. 16. 39. Ng, New Light, S. 404. 40. Eine Ausnahme ist die Studie von Rambelli, Faustolo: Delle Navi di Nemi. Parte Seconda; in: HDS Notizie, 17, 2000, 8-14 41. Cf. Lazenby, David: The Depths of the Dark Age. A Danish Museum’s Reconstruction of a Mediaeval Diving Dress, in: Historical Diving Times, 23, 1998, 9-12, hier S. 12. Mitteilung der Redaktion: Die Kollegen der HDS Italien bauen ein lebensgroßes Modell des Taucherhelms als Anschauungsmuster (ohne Tauchabsicht) für ihr Museum. Wenn es fertig ist, wird es einen kleinen Artikel für die TauchHistorie dazu geben.